Gemeinde im Blindflug?

Gleich bei der ersten Gelegenheit nach dem Hochwasser-Ereignis wird die Verwaltung von der schwarz-grünen Mehrheit im Ausschuss Schule, Sport und Soziales am 26. August 2021 mit der Planung eines Neubaus in einem der Überschwemmungs-Hotspots von Mitte Juli 2021 beauftragt. Die kontroverse Debatte drehte sich vorrangig um die Vertretbarkeit einer solchen Baumaßnahme angesichts weiterer bevorstehender Starkregenereignisse. Während SPD und FDP im Zusammenhang damit eine Aufstockung vorhandener Gebäude anstrebten, setzte die Verwaltung mit Hilfe von CDU und Bündnis 90/Die Grünen ihre Idee durch, zusätzliche Räumlichkeiten auf einer bisher unbebauten Fläche im Schulzentrum zu schaffen. In einer Stellungnahme auf der eigenen Website verteidigt Bündnis 90/Die Grünen ihre Position wie schon in der Sitzung mit dem Hinweis, andere Varianten seien entweder teurer oder aus anderen Gründen nicht zu realisieren.

Zusammengefasst drehte sich die Diskussion also allein darum, an welcher Stelle die zusätzlich benötigten Unterrichtsräume auf dem Schulgelände entstehen. Die eigentlich zwingende Alternative wurde im Ausschuss leider gar nicht erst in den Raum gestellt: Das Schulzentrum muss mit dem derzeit vorhandenen Raumangebot bis auf Weiteres klarkommen, und macht aufgrund der aktuellen finanziellen Lage der Gemeinde und einer ungewissen Zukunft die notwendigen Kompromisse bei seinem Unterrichtsbetrieb.

Schließlich ist nicht nur Odenthal derzeit im Ausnahmezustand. Pandemie, Hochwasser, explodierende Preise, Inflation. Den Einwohner*innen der Gemeinde und der Nation werden auf nicht absehbare Zeit jetzt und künftig Einschränkungen und Kompromisse in nach dem Krieg nicht dagewesenem Maß abverlangt. Es ist daher grundsätzlich nicht zu viel verlangt, dass der Schulbetrieb keine zusätzlichen finanziellen Belastungen für die abgabepflichtigen Odenthaler*innen verursacht, solange das irgendwie vermeidbar ist. Vermeidbar wäre der zusätzliche Raumbedarf vermutlich schon dadurch gewesen, die Rückkehr zu G9 im Gymnasium auszusetzen, bis es für die finanziellen Verhältnisse wieder belastbare positive Prognosen gibt. Diese Entscheidung hätte von den unterschiedlichen Kriterien der Machbarkeit abhängig gemacht werden können, statt Tatsachen zu schaffen, denen jetzt Millionen nachgeworfen werden müssen, über die Odenthal nicht verfügt.

Immerhin soll der Neubau mindestens 4 Millionen Euro kosten. Schon der Odenthaler Haushalt 2021 ist aber de facto nicht ausgeglichen. Er wurde erst im Dezember 2020 vom Bürgermeister und dem Kämmerer als Entwurf eingebracht. Damit begann der Planungsprozess einen Monat, nachdem gemäß der Gemeindeordnung Nordrhein-Westfalen die Haushaltssatzung eigentlich schon hätte beschlossen sein sollen. Aufgrund der besonderen Corona-Gesetzgebung wurde zwar die Frist für die Anzeige der Satzung auf den 1. März 2021 verlängert, die Haushaltssatzung 2021 der Gemeinde Odenthal trat jedoch erst am 1. Juli 2021 mit der amtlichen Bekanntmachung in Kraft. Die komplette erste Hälfte des Haushaltsjahres ist demnach ohne gültige Haushaltssatzung vergangen. Damit war nach dem Gesetz die Gemeinde 6 Monate lang in der „vorläufigen Haushaltsführung“.

Paragraph 82 der Gemeindeordnung Nordrhein-Westfalen beschränkt hierfür die erlaubten Ausgaben der betroffenen Gemeinden auf Aufwendungen und Auszahlungen, zu denen die Gemeinde rechtlich verpflichtet ist, oder die für die Weiterführung notwendiger Aufgaben unaufschiebbar sind. Sie darf insbesondere Bauten, Beschaffungen und sonstige Investitionsleistungen, für die im Haushaltsplan des Vorjahres Finanzpositionen oder Verpflichtungsermächtigungen vorgesehen waren, fortsetzen, Realsteuern nach den Sätzen des Vorjahres erheben, und Kredite umschulden. Und sonst nichts. Es wäre interessant zu erfahren, ob die Gemeinde sich der vorläufigen Haushaltsführung in den ersten sechs Monaten des laufenden Jahres überhaupt bewusst war, und ihre Aufwendungen entsprechend auf das unbedingt Notwendige beschränkt hat.

Ungeachtet einer vorläufigen Haushaltsführung wich der beschlossene Haushalt zudem teilweise eklatant vom ersten Planungsentwurf ab. Zum Beispiel wurde die Höhe der Kreditaufnahme für Investitionen im ursprünglichen Entwurf mit €214.065 dargestellt. Im Satzungsbeschluss hatte diese Position jedoch dann eine Höhe von €2.427.635, was einer Veränderung um etwa 1.134 Prozent entspricht.

Bedenklich ist auch die fehlerhafte Darstellung des Finanzergebnisses im Entwurf und in der späteren Satzung. Ein Mehraufwand durch die Pandemie von etwa 2,5 Millionen Euro war von der Verwaltung im Finanzplan als Einzahlung berücksichtigt worden. Dies war wohl weder der Verwaltung noch der Politik bis zum Satzungsbeschluss aufgefallen. Erst in einer Gemeinderatssitzung am 11. Mai 2021 informierte der Kämmerer die Ratsmitglieder hierüber.

Der Gemeinderat hatte zuvor für den Finanzplan Einzahlungen aus laufender Verwaltungstätigkeit von insgesamt €33.743.509 beschlossen. Nach Abzug der zu viel angenommenen €2.516.000 waren es allerdings nur noch €31.227.509. Das wurde in der amtlichen Bekanntmachung des Haushalts Anfang Juli mit einem redaktionellen Sternchen „richtiggestellt“, nachdem CDU und Bündnis 90/Die Grünen sich nicht mehr bereit erklären wollten, den Haushalt unter dem Eindruck des lange unentdeckten Millionenlochs neu zu beraten.

Dabei kann man eine absolute Abweichung von immerhin etwa 7,5 Prozent des Gesamthaushaltes wohl durchaus als relevanten Fehler betrachten, der womöglich Auswirkung auf die Planung und die Beratungen hätte haben sollen. Dies umso mehr in einem Haushaltsplan, der um seinen Ausgleich ringt.

Das Defizit im Haushalt beläuft sich im Finanzplan am Ende auf knapp 3 Millionen Euro, und nicht „nur“ auf knapp eine halbe Million, ein um 600 Prozent schlechteres Finanzergebnis. Im Finanzplan ist das nach der Korrektur des Buchungsfehlers der Verwaltung auch erkennbar, im Ergebnisplan aufgrund einer „Bilanzierungshilfe“ des Gesetzgebers zur „Neutralisierung“ von pandemiebedingten Mehrbelastungen nicht. Das ändert aber nichts daran, dass das bilanzierte Geld real nicht existiert.

Nicht vorhanden ist auch der Abschluss des Haushaltsjahres 2020. Das Gleiche gilt für den Lagebericht. Allerdings sieht die Gemeindeordnung Nordrhein-Westfalen für die Vorlage des Entwurfs des Jahresabschlusses und des Lageberichtes der Gemeinden eine Frist bis Ende März des Folgejahres vor. Der Bürgermeister hat den von ihm bestätigten Entwurf innerhalb von drei Monaten nach Ablauf des Haushaltsjahres dem Rat zur Feststellung zuzuleiten. Nach dem Kenntnisstand der Redaktion ist das etwa fünf Monate nach Ablauf der gesetzlichen Frist in Odenthal noch nicht geschehen.

Fehlende Abschlüsse und Lageberichte, unrealistische Haushaltsentwürfe, massive Fehler, die erst nach Beschluss des Haushalts offenbar werden, redaktionelle Hinweise auf Abweichungen von der beschlossenen Satzung statt Neuberatung des Haushalts und vielleicht, oder vielleicht auch nicht vorläufige Haushaltsführung über sechs Monate lassen nicht wirklich einen Vertrauensvorsprung für die handelnden Personen zu. Bei all dem stellt sich sogar die Frage, ob die politischen Gremien im Moment überhaupt einen ausreichend konkreten Informationsstand über die tatsächliche finanzielle Lage der Gemeinde haben, die es zulässt, signifikant siebenstellige Investitionen auf den Weg zu bringen, oder ob die Gemeinde sich eben doch im finanziellen Blindflug befindet.

Corona wird sehr wahrscheinlich 2022 nicht vorbei sein, wie manche Mandatsträger*innen in vergangenen Debatten über die finanzielle Situation Odenthals schon beruhigend vorhersagen wollten. Es ist statt dessen bis zum Beweis des Gegenteils als latentes Finanzrisiko für die kommenden Jahre zu betrachten. Mit dem Hochwasser vom 14./15. Juli 2021 ist ein weiteres finanzielles Dauerthema hinzugekommen. Dazu gesellen sich deren Folgeerscheinungen. Die Bürger*innen ziehen dieser Tage bereits eine Preis- oder Beitragserhöhung von Versicherungen, Pflegeeinrichtungen oder Behörden nach der anderen aus ihren Briefkästen. Nach den anstehenden Bundestagswahlen werden mutmaßlich die schlechten Nachrichten über finanzielle Mehrbelastungen nicht abreißen. Auf kommunaler Ebene kann man eigentlich von den gewählten Vertreter*innen erwarten, dass sie die Situation nicht weiter verschlimmern.

Vor dem Hintergrund dieser auch für die Odenthaler*innen historischen Belastungssituation, hätten diese erwarten können, dass die Alternative des möglichen Verzichts auf eine mehrere Millionen Euro teure Investition zumindest ernsthaft in Erwägung gezogen worden wäre. Nun ist es vielleicht nicht verwunderlich, dass ein Schulausschuss bei seinen Entscheidungen im Schwerpunkt die Interessen der Gemeinde an Schule und Bildung präferiert, auch wenn im Gymnasium und in der Realschule nur maximal die Hälfte der Schüler*innen aus Odenthal kommen. Unter den Ausschuss-Mitgliedern befanden sich jedoch mehrere Gemeinderatsmitglieder, denen der Blick auf das große Ganze zuzutrauen ist.

Im letzten Haushalt, der mit der Mehrheit von CDU und Bündnis 90/Die Grünen und des Bürgermeisters gegen SPD und FDP beschlossen wurde, lag soviel planerisches und handwerkliches Verbesserungspotential, dass ein gewisser Argwohn zur Zeit verzeihlich sein dürfte, ob dieselbe Mehrheit bei ihren aktuellen Entscheidungen die Lage wirklich überblickt.

Wenn nicht jetzt, wann wäre dann die Zeit, wenigstens auf kommunaler Ebene finanzielle Zurückhaltung für die Bürger*innen zu üben, im Zweifel das Geld zu sparen, und sich einen sorgfältigen, vollständigen und verbindlichen Überblick über die aktuelle finanzielle Situation und die Perspektiven zu verschaffen?